Der tschechische Fotograf Jan Reich starb 2009 im Alter von 67 Jahren in Prag. Zeit seines Schaffens fotografierte er mit dem Rücken zur Moderne überwiegend Landschaften und die tschechische Hauptstadt. Hinterlassen hat er ein Werk, das geprägt war von den Erfahrungen des Schwundes in einer sich wandelnden Welt. Heute kann Jan Reich auch im europäischen Kontext als einer der letzten großen Romantiker der Fotografie gelten.
Über 40 Jahre währte das Schaffen des tschechischen Fotografen Jan Reich, zusammen mit Josef Sudek und Jan Saudek gehörte er, jeder auf die eigene, zum Teil exzentrische Weise, zu den romantisch inspirierten Lichtbildnern Tschechiens. Unverdrossen in seiner Rückwärtsgewandtheit, trennte ihn von Josef Sudek die experimentelle Vielfalt ebenso wie die unbekümmerte Anverwandlung von Moderne und Urbanität; vom exaltierten Jan Saudek die Lust am Absonderlichen wie am Perversen.
Drei große Prag-Zyklen
Der 1942 geborene Reich gehört zu den jüngsten Vertretern dieser Fotografen, und es ist dabei nicht ohne Ironie, dass man das, was man gemeinhin als das „Romantische“ bezeichnet, bei ihm noch sehr unverfälscht bewundern kann. Reich graduierte 1970 an der Prager Hochschule FAMU, und das Werk, das folgte, stand handwerklich und ikonografisch durchgängig ganz im Zeichen eines ästhetischen Konservatismus. Ähnlich wie Sudek bevorzugte er über weite Strecken seines Schaffens das Großformat wie den Kontaktabzug, thematisch widmete er sich im ersten großen Zyklus der Siebziger Jahre, „Disappearing Prague“ (Mizející Praha), den vom endgültigen Verlust bedrohten Momenten und Stadtansichten in der böhmischen Metropole. Natürlich nicht so traumversunken wie die legendären Aufnahmen von Sudek, folgten die Fotografien noch dem eigentümlichen romantischen Impuls etwa eines Eugène Atget, das fast Vergangene bewahrend zu dokumentieren.
„Prag“ blieb freilich auch das Thema der späteren Zyklen, die in den Achtziger und Neunziger Jahren einsetzten. Bedeutsam sind sie vor allem, da Jan Reich hier, wiewohl unverkennbar unter der ästhetischen Diktion von Josef Sudek stehend, zu seiner stilistischen Reife gelangte: Jene eigentümlich aus der Zeit gefallenen und stets menschenleeren Stadtimpressionen, welche die künstlerisch hochwertige Prag-Ikonografie seit Sudek so prägen sollten. Neben dem 1993 vorgelegten Band Praha ist die Bilderreihe Vltava a Praha bemerkenswert, ein Zyklus durchgängig vertikaler Aufnahmen, zu deren Veröffentlichung 2001 Milan Kundera das Vorwort schrieb. Auf recht hintergründige Weise behandeln sie auch das Thema der Vergänglichkeit, deutet man den Fluss der Moldau als Sinnbild verstreichender Zeit, rücken Hradschin, Karlsbrücke oder die Čech-Brücke durch die konsequente Himmel-Orientierung dem romantischen Impuls entsprechend ins Transzendental-Überzeitliche.
Familie und Vaterland – Dům v krajině
Die Fotografie als Gegen-Medium zu einer beschleunigten Gegenwart führte Reich fast folgerichtig zu den Themen Tradition, Familie und Vaterland. Nach Vollendung des ersten Prag-Zyklus folgen zu Beginn der Achtziger Jahre mit Rodina (Familie) und Čechy Krajina (Landschaftsaufnahmen) sepiawarme Impressionen des Landlebens sowie bäuerliche Stillleben aus Böhmen. Ästhetisch nicht immer geglückt, verlieren sich manche Aufnahmen zumal aus dem unmittelbaren Familien-Umfeld manchmal im Trivialen und Banalen. Gleichwohl verdankt die tschechische Fotografie den Zyklen einige der schönsten Kinderporträts, und auch die Wirtshausaufnahmen lassen eine von Sudek inspirierte Meisterschaft im Umgang mit Licht erkennen. Zusammengefasst wurden die Zyklen im Band „A House in the Country“ (Dům v krajině), der 2007 in Jan Reichs eigenem Verlag Galerie Nový Svět erschienen ist.
Das Magnum Opus Bohemia
Mit dem 2005 veröffentlichten Band Bohemia legte der tschechische Fotograf sein gewichtigstes, künstlerisch bedeutsamstes und geschlossenstes Werk vor. Als Kulminationspunkt einer ästhetischen Entwicklung, ist Bohemia das einzige Werk tschechischer Nationalfotografie geworden und kann bis heute in seinem Anspruch als unerreicht gelten.
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die Aufnahmen des Bohemia-Projektes in den Neunziger Jahren einsetzen. Es ist die beschleunigte kapitalistische Moderne, die nun in Tschechien einfällt, und mit touristischen Strömen verliert für Jan Reich auch das alte Prag zunehmend an Magie. Der Fotograf wandte sich nun wieder der böhmischen Provinz zu, doch im Gegensatz zu den Zyklen Rodina und Čechy – krajina ging Reich nicht mehr von der ländlichen Lebenswelt aus, sondern weitete seinen Blick ins Historische: Es sind Orte wie Karlštejn, Smečno oder Nachod, die, verwittert, oftmals efeuüberwuchert und im morgendlichen Nebel, wie von Ferne noch einmal von Böhmens Größe zeugen.
Zum hohen künstlerischen Niveau des preisgekrönten Bandes trugen dabei nicht nur die konsequente Anwendung von gestalterischen Prinzipien wie Achsenbildung und der Goldene Schnitt bei, sondern die einheitliche Bildsprache. Waren die Familienaufnahmen noch von Synästhesien durchsetzt – man meint den Geruch der Kneipen in der Nase zu haben, das Lachen der Kinder zu hören -, so spricht aus den Bildern des Bohemia-Bandes schieres Schweigen. Zauberisch, märchenhaft und mitunter von einer gespenstischen Weltabgewandtheit, scheint Jan Reich die längst vergessenen Burgen, Schlösser und Ruinen dabei ertappt zu haben, wie sie von sich selbst träumen.
Jan Reichs Romantik und die Neo-Romantik Josef Sudeks
Mit all dem präsentiert sich das Schaffen als urromantisch, zudem belegt der Rückblick aber auch, wie verfehlt es ist, Jan Reich vorbehaltlos in der Nachfolge Josef Sudeks zu sehen. Sudeks Romantik blieb immer eigentümlich gebrochen, durch die Erfahrungen der urbanen Moderne, der Neuen Sachlichkeit ebenso avantgardistische Ambitionen. Seine fotografische Bedeutung für das 20. Jahrhundert speiste sich gerade hieraus. Die Spiritualität des Veits-Domes durch den Lichteinfall als „unmittelbar zu Gott“ zu inszenieren und gleichzeitig durch die Darstellung der Renovierungsarbeiten zu verfremden, wäre indes Jan Reich nie in den Sinn gekommen.
Man begreift auch ohne Mühen, weshalb. Mehr als alle anderen tschechischen Fotografen bezog Jan Reich sein Selbstverständnis noch aus dem ikonographischen und ideelen Pathos des 19. Jahrhunderts. So ist eine Würdigung Jan Reichs unter Bezugnahmen auf Josef Sudek denkbar unvollständig. Nicht weniger prägend dürfte denn auch das Werk der frühen tschechischen Landschaftsfotografen wie Jindřich Eckert oder Karel Maria Chotek gewesen sein. Das verleiht seinem Schaffen etwas merkwürdig Unzeitgemäßes und schmälert seinen künstlerischen Rang gegenüber Sudek, begründet aber gleichwohl seine Bedeutung bis heute. Man muss nur auf die inszenierte Leere, die Beliebigkeit und Konstruktionsbedürftigkeit zeitgenössischer Fotokunst verweisen. Nimmt man Jan Reich als einen Klassiker, also einen Künstler, der uns nach wie vor etwas zu sagen hat, dann ist es genau dies: Nämlich dass nur Bestand hat, was durchsetzt ist mit Tradition und Erinnerung.