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Der Augenblick der Epoche

Der tschechische Fotograf Jan Lukas durchlebte die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in Prag. Noch vor dem Prager Frühling emigrierte Lukas in die USA, wo er betagt im Jahre 2006 starb. Zusammen mit Josef Koudelka und Markéta Luskačová gehört er heute zu den bedeutendsten tschechischen Fotojournalisten der Epoche. Einblicke in Leben und Werk liefert der Band „People/Lidé (1930 – 1995)“ der Prager Artinbox Gallery.

Theresienstadt
© Helena Lukas. In: Jan Lukas: People/Lidé (1930 – 1995). Herausgegeben von Nadia Rovderová. Artinbox Gallery. 2015. ISBN: 978-80-7437-182-0

Als Jan Lukas die Familie Vogel kurz vor der Deportation nach Theresienstadt fotografierte, war der Tochter Vendulka die Ahnung kommenden Unglücks ins Gesicht gezeichnet. Mit den Insignien äußerster Unterdrückung, dem Judenstern, sowie die Erniedrigung zur bloßen Nummer, ahnte die junge Vogel, was der heutige Betrachter weiß, dass nämlich für die Porträtierte Theresienstadt nur ein Durchgangslager in den organisierten Massenmord der Vernichtungslager sein sollte.

Tatsächlich überlebte die Jüdin die Shoah, auf einem der Todesmärsche gelang Vendulka mit ihrer Mutter die Flucht. Als es nach dem Krieg zu einer neuerlichen Zusammenkunft kommen sollte, war es Lukas, der dem Tode nahe in einem Prager Krankenhaus um sein Leben kämpfte, eine lebensbedrohliche Knochenmarkentzündung hatte ihn erfasst.

Der Weltlauf im Portrait

Jan Lukas wurde 1915 in Budweis geboren, und der vorgesehene Weg in die kaufmännische Welt des Vaters wurde schon 1927, im Alter von 12 Jahren, durch die Begegnung mit der künstlerischen Welt Prags vereitelt. Im gleichen Jahr war es auch, als Lukas von seinem Onkel eine in die Jahre gekommene 9×12-Kamera erhält. Mit nur 15 Jahren erringt Lukas den sechsten Preis eines von Kodak ausgelobten Fotowettbewerbs, und erst 19-jährig arbeitet Lukas für die Pariser Fotoagentur von Pavel Barchan. Europaweite Beachtung finden 1936 drei seiner Fotografien im Zuge einer großen Ausstellung in der Prager Manes-Galerie. In den folgenden Jahren bereist der tschechische Fotograf unter anderem Palästina, Griechenland, Skandinavien und die Sowjetunion.

Zur Meisterschaft gelangte Lukas im Medium des Mittelformats. Mit einer Rolleiflex-Kamera entwickelte er einen Stil fotojournalistischer Porträtkunst, am deutlichsten und am erschütterndsten im Vogel-Bild, gelang es ihm, den Weltlauf in psychologisierenden Aufnahmen einzufangen. Neben den porträtierten Schrecken des Holocaust gehören die Eindrücke von der Beerdigung von Edvard Beneš zu den herausragenden Dokumenten seiner Prager Zeit.

Jan Lukas
Jan Lukas: People/Lide (1930 – 1995). © Nadia Rovderová. Artinbox Gallery. 2015. ISBN: 978-80-7437-182-0

Dass uns nicht viel mehr Aufnahmen aus den nachfolgenden Jahren erhalten sind, war den Gängeleien der kommunistischen Partei geschuldet. Schon 1948 muss Lukas seine tagesaktuelle Tätigkeit einstellen, produktiv bleibt er gleichwohl. Es entstehen ein vielbeachtetes Reisetagebuch aus Moskauer Impressionen, ein Band über das Judentum in der böhmischen Metropole sowie ein Buch über Kafkas Prag. Erst 1965 wählt der Fotograf unter dem Druck der politischen Verhältnisse das Exil. Mit seiner Familie emigriert Lukas über Italien in die USA, und mit der Ankunft in New York verabschiedet Lukas auch die Methode narrativer Porträtkunst und setzt von nun an nahezu ausschließlich auf das 35mm-Format.

Wendung zur Street Photography in New York

In der amerikanischen Metropole, der eigentlichen Heimat der Street Photography, ist der Tscheche sichtlich fasziniert von der Ordnung im Chaos, der Imposanz der Häuserschluchten, und wo zu Prager Zeiten noch Mimik und Gestik porträtiert wurden, verschwindet im anonymen Großstadtbetrieb zunehmend das Individuelle und Schicksalhafte in den Zügen der Menschen. Die Psychologie des Frühwerks weicht in den meisten Bildern einem fotografischen Situationismus.

Trotzdem bleibt Lukas in Fühlung mit politischen und kulturellen Größen. Wir finden Aufnahmen von Henry Kissinger, Ronald Reagan und Richard Nixon, aber auch und immer wieder porträtierte Reminiszenzen an die verlorene Heimat: Jiří Kolář taucht auf, ebenso Bohumil Hrabal, Miloš Forman oder der Schauspieler Jiří Voskovec, Lukas‘ Held aus Prager Schülertagen. Am Ende des Bandes sehen wir einen feisten und modisch gekleideten Václav Havel, mehr Schnappschüsse als durchdringende Studien, beschließen die Fotografien den Artinbox-Band; in den Neunziger Jahren war es auch, als Lukas sein Werk beschloss, ganz so, als ob der Fotograf um das frühe Ende des 20. Jahrhunderts wusste.

Skeptischer Humanismus

Trotz sanfter stilistischer Brüche lässt sich im Werk Lukas‘ ein durchgehendes Gestaltungsprinzip ausmachen. Es ist der immer wiederkehrende Hang, mit Spiegelungen und Doppelungen zu arbeiten: Der Mensch blieb für den tschechischen Fotografen immer das Maß der Dinge, die Hybris der Zeit in Gestalt der Ideologien das Angemasste und damit Inkommensurable: Ein Aufnahme zeigt sitzende Prager vor sozialistischer Triumph-Ikonografie, aber die gleichgültigen Blicke der Wartenden gehen nur ins Leere.

Ähnliche Eindrücke visualisiert Lukas von den Mai-Feierlichkeiten 1965 in Prag. Der Siegesgruß der sozialistischen Machthaber wird durch die versteinert-skeptischen Minen der Partei-Mitglieder kontrastiert. Später, in amerikanischen Emigration, verschwindet der Einzelne zunehmend in den Schluchten amerikanischer Wolkenkratzer. Lukas blieb der skeptische Humanist, dem die Verheißungen aus Freiheit und Entgrenzung das Maßlose bedeuteten. Eines der eindrucksvollsten Aufnahmen zeigt die Freiheitsstatue im Zustand der Renovierung, die Arbeiter indes nur in ameisenhafter Größe im Schatten des ins Riesenhafte symbolisierten zivilisatorischen Auftrags.

Das fotografische Werk von Jan Lukas ist uns nur als Fragment überliefert. Tausende Bilder verschwanden nach der Emigration aus dem Lukas‘ Prager Wohnung, aber das Erhaltene genügt, um Lukas zu den bedeutendsten Fotojournalisten des 20. Jahrhunderts zu rechnen. Anders als etwa bei Josef Koudelka sind von Lukas keine wirkmächtigen Bilder-Zyklen erhalten; das schmälert seinen Rang gegenüber dem Magnum-Fotografen in keinster Weise, im Gegenteil, dem Tschechen gelang in einzelnen Bildern nichts weniger als dies: die Epoche im Augenblick auf Film zu bannen.

Mein Dank gilt der Tochter Helena Lukas für das zur Verfügung gestellte Bild.

Der Band der Artinbox-Galerie ist im Fotogeschäft Centrum FotoŠkoda unweit des Wenzelplatzes erhältlich.

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