Josef Sudek – „The Legacy of a Deeper Vision“
Als Werkschau des Fotografen Josef Sudek ist der Band „The Legacy of a Deeper Vision“ des Münchner Hirmer-Verlags gleichzeitig eines der bedeutendsten Bücher zur tschechischen Fotografie in den letzten Jahren. Vier Essays umkreisen zudem die Fotografien und beleuchten kunstgeschichtliche und technische Aspekte. Der Band zeigt ein vielfältiges und in sich widersprüchliches Werk in seiner Epoche.
Die Fotografie-Geschichte verdankt dem ersten Weltkrieg eine der staunenswertesten Künstler-Biografien. Der 1896 geborene Josef Sudek kämpfte an der italienischen Front und verlor dort seinen rechten Arm. Seinem eigentlichen Beruf als Buchbinder konnte er von nun an nicht mehr nachgehen, also begann er sich der Fotografie zu widmen.
Außenseiter Josef Sudek
Wie Antonín Dufek in seinem Essay „Sudek the Outsider“ zeigt, spiegelt das Schaffen zunächst wesentliche Fotografie-Etappen der Zeit wider. Unter dem Einfluss der Piktorialisten beginnt das Werk mit impressionistisch anmutenden Prager Stadt-Ansichten und Eindrücken aus dem Invalidenheim, späterhin entwickelt sich das Oeuvre in die Rationalität einer Neuen Sachlichkeit, zu der Antonín Dufek neben den Produktfotografien ansatzweise auch die berühmten Aufnahmen aus dem Veitsdom zählt.
Schließlich folgt 1940 der Bruch, und ein merkwürdiger Eigensinn entfernt Josef Sudek ganz vom fotografischen Zeitgeist. Mit der Hinwendung oder besser Rückbesinnung auf Techniken aus dem 19. Jahrhundert konsolidiert sich das Werk in handwerklicher Hinsicht, Sudek bevorzugt mit dem Format 30 x 40 nun nahezu ausschließlich den Kontakt-Abzug. Vielseitig bleibt das Werk gleichwohl. Neben den surrealen Eindrücken aus dem Garten von Otto Rothmeyer, den Fenster-Studien aus dem Atelier in der Ujezd-Straße sind es die Panorama-Bilder, die Aufsehen erregen.
Antonín Dufek will mit seiner Rückschau den Fotografen aus der rezeptionsästhetischen Enge befreien, die in Sudek vor allem den Romantiker sieht. Dieser hatte zu Beginn der 70er Jahre eine Auswahl seiner aktuellen Fotos in die USA geschickt, mit dabei waren die Fenster-Bilder, welche die Einordnung als Romantiker eben begünstigten. So nuanciert Antonín Dufek um eine differenzierte Sichtweise ringt, sie wird durch den Band doch widerlegt.
Mythos und Moderne
Allein der Titel des Bandes, „The Legacy of a Deeper Vision“, verortet das Schaffen im Romantischen. Die Auffassung, dass sich sich hinter den sichtbaren Dingen eine tiefere Wirklichkeit verbirgt, variiert den Blick des Schriftstellers Ernst Jüngers, der in Stadtlandschaften von Neapel bis Amsterdam das immer gleiche Urbild erkannte – der moderne Archetyp der Großstadt wurde dechiffriert.
Josef Sudek hat wenige Jahre vor seinem Tod bemerkt: „The charme of everything is in its mystery“, und damit den romantischen Blick als einzige Sichtweise inthronisiert. Anders als der Pariser Dokumentarist Eugène Atget, mit dem Sudek oftmals verglichen wird, versöhnt der tschechische Fotograf als einer der ersten in seinem Schaffen Romantik und Urbanität, die Aufnahmen vom Museum, Gemeindehaus oder Nationaltheater geben nicht nur Prager Stadtansichten wider, sondern enthüllen in ihrer archetypischen Tiefe den Mythos des Urbanen als solchen.
Auch die Fenster-Aufnahmen lassen sich unschwer aus der romantischen Tradition deuten, man denke hier vor allem an die Gedichte Joseph von Eichendorffs. Freilich: Von einer romantischen Unendlichkeits-Sehnsucht wie bei Eichendorff sind die gleichwohl sehr lyrischen Aufnahmen denkbar weit entfernt, in ihrer eigentümlichen Initimität zeugen sie aber wie keine anderen Bilder vom zurückhaltenden Wesen des Fotografen. Und es mag kein Zufall sein, dass sie in den 1940er Jahre einsetzen. Es ist die Geschichte, die in großen Schritten an der tschechischen Hauptstadt vorüber zieht: die deutsche Okkupation, der Prager Aufstand, der sowjetische Einmarsch, doch Sudeks Interesse gilt nur der visuellen Introspektion durch Tropfen, Schlieren und Frost an den Fenstern im Zyklus der Jahreszeiten.
Zwischen Rationalität und Subjektivität
Ganz im Träumerischen verlieren sich die Fotografien im magischen Garten von Otto Rothmeyer, in deren Zusammenhang auch die surreal anmutenden Aufnahmen liegender oder halb zerborstener Statuen und Büsten gehören dürften, wie überhaupt Lebloses wie Baumstümpfe, Mannequins oder Toten-Masken Sudek über Jahre hinweg fasziniert und angezogen hat. Sie lassen innerhalb des nahezu menschenleeren Werkes etwas von einer Todes-Affinität erahnen, die den Weltkriegs-Veteranen offenbar beherrschte. Dem Frühwerk verpflichtet zeigen sich die Stadt-Aufnahmen aus den 1950er Jahren. Im Medium einer nahezu 50 Jahre alten Kodak-Panorama-Kamera inszenieren sie noch einmal und spektakulärer den romantischen Blick im Horizont der Großstadtlandschaft.
Quer dazu liegt die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit, der sich Sudek in der mittleren Schaffens-Periode verpflichtet zeigte. Blättert man durch den Band, nehmen sich die Produktfotografien, aber auch die Porträts eigentümlich fremd aus. Als Sudek 1936 in einem Interview gefragt wurde, ob Fotografie eine Kunst sei, erwiderte er: „It isn’t. It’s a nice craft requiring a certain amount of taste. It can’t be art, because it depends entirely on things that already existed before it and apart from it, that is, the world around us.“ Die Aussage mag ein Reflex der zahlreichen Auftragsarbeiten sein, doch aus einer übergreifenden Perspektive spiegelt sich darin das Dilemma der damaligen Fotografie im Ganzen wider.
In einer Zeit, in der sich die Fotografie erst als künstlerisches Medium vom bloß Handwerklichen emanzipieren musste, changiert das Werk in seiner Uneindeutigkeit zwischen dem Anspruch des 19. Jahrhunderts nach dokumentarischer Strenge einerseits und dem Drang nach Subjektivität und Exzentrik andererseits. Erst in der letzten Schaffensperiode fand er zu jener Vielfalt an Bildersprachen, die sein eigentliches Wesen ausmachte. Seine Bedeutung ergibt sich gerade daraus: Wie kein anderer Fotograf seiner Zeit hat er all diese Widersprüche in seiner Person evident und zugleich fruchtbar gemacht.
Mein besonderer Dank gilt dem Hirmer-Verlag sowie Charles Sawyer, der mir das Porträt-Foto aus dem Atelier in der Ujezd-Straße zur Verfügung gestellt hat. Sawyer ist emeritierter Professor der Harvard University, er besuchte Sudek 1975 und 1976 in seinem Atelier in Prag. Weitere Informationen zu Sawyers Beschäftigung mit Josef Sudek erhalten Sie hier: