Zum Inhalt springen

Archäologie des Augenblicks

Das Sudek Project des Kunsthistorischen Instituts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften sammelt und sammelt – vor allem Bilder des großen Josef Sudek. Zu den bemerkenswertesten Veröffentlichungen gehört der 2018 erschienene Band „Josef Sudek: Topography of Ruins“, worin der einarmige Fotograf die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs in Prag dokumentierte.

Josef Sudek
© Vlado Bohdan, Institute of Art History of the Czech Academy of Sciences

Das Sudek Project macht es ich zur Aufgabe, das Werk Josef Sudeks zu sammeln, zu ordnen und zu systematisieren. Denn was bisher bekannt ist, ist nur die berühmte Spitze des Eisbergs. „The aim of the project is the comprehensive preservation, physical and digital conservation, specialist processing, evaluation, and presentation to the wider public of a collection comprising some 13 500 negatives and 6000 positives made by Josef Sudek, mostly dating from the period 1930–1960, which is kept in the collections of the Institute of Art History of the Czech Academy of Sciences.“

Den letzte Ertrag dieser werkarchäologischen Tätigkeit veröffentlichte das Sudek Project mit dem Band „Josef Sudek: Topography of Ruins. Prague 1945.“ Der Sudek, der da hinter dem bekannten Sudek auftaucht, ist freilich kein völlig anderer, aber die emsige Freilegungsarbeit fügt dem gängigen Bild eine neues Detail hinzu. Was aber war geschehen? Im Februar bombardierten die Alliierten Prag – versehentlich, im Mai wurden Teile der Altstadt im Zuge des Prager Aufstandes arg in Mitleidenschaft gezogen. Getroffen wurden u.a. Kulturdenkmäler wie das Emmauskloster, die Altstadthalle und Gebäude am Altstädter Ring. Teilweise nur einige Hundert Meter von der Ujezd-Straße entfernt, dürfen wir annehmen, dass der plötzliche Kriegs-Einbruch noch einmal retraumatisierend auf den Weltkriegsveteranen Josef Sudek wirkte.

Blickt man durch die Aufnahmen, fällt die Andersartigkeit der Aufnahmen sofort ins Auge. Sie sind kühl, klar, arm an Kontrasten, fast durchweg dokumentarisch streng. Das Sudek Project spricht gar von einem fotojournalistischen Charakter, und in der Tat drängt es sich auf: Die Aufnahmen der Ruinen sind geradezu das Negativ zur Sudekschen Ikonographie, aber gleichwohl historisch und biografisch mit der traumatischen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts verbunden.

Da war zunächst die Erfahrung der Schützengräben an der italienischen Front. Sudek verlor dort seinen rechten Arm, annehmen dürfen wir aber, dass der Fotograf nicht nur körperlich, sondern auch psychisch gezeichnet nach Prag zurückkehrte. Auf einer anderen Ebene ist es wahrscheinlich, dass ein empfindsam-romantisches Gemüt wie das von Sudek seismografisch mehr in die böhmische Metropole mitnahm als die Erfahrungen von Trauma und Amputation, nämlich dies: Die Materialschlacht als Inbegriff eines kompletten Sinnverlusts, das industrielle Töten als Vollendung einer nihilistisch-destruktiv gewordenen Moderne.

Zwischen Epiphanie und Zerstörung – Sudeks Fotografie in den Vierziger Jahren

Knapp 30 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bedeuten die Bombeneinschläge eine Retraumatisierung. Und damit eine Wiederkehr des Verdrängten, das über Jahrzehnte unterhalb der romantischen Prag-Bilder verborgen war. Fast meint man, hinter den Aufnahmen eine eigentümlich traumwandlerisch wirkende Gestalt am Werk zu sehen. die somnambul den Alptraum einer neuerlich einbrechenden Moderne durchmisst. Die Kamera ist das Medium, das Kleists Horror von den abgeschnittenen Augenlidern Wirklichkeit werden lässt: Ohne die Augen schließen zu können, muss der Betrachter der Zerstörung ins Antlitz schauen.

Mythos und Nihilismus

Werkbiografisch markieren die Ruinen-Fotografien einen Null- und Kontrapunkt zu den bekannten und berühmten Bildern. Sudek inszenierte mit seinen Kameras die böhmische Metropole als Märchenraum, Prag geriet ihm so zu einem Chronotop, in dessen Horizont die Moderne mit dem Mythos verschmolz. Zu den beeindruckensten Bildern gehören in diesen Zusammenhang die Aufnahmen aus dem Prager Veitsdom, welche die Erfahrung des Göttlichen inszenieren. „Es war eine Epiphanie!“, meinte Sudek beim Anblick des einfallenden Lichts. Nimmt man all diese Befunde zusammen, oszilliert die Ikonografie Josef Sudeks zwischen zwei Polen. An deren einem Ende geht es um die nihilistische Vernichtungsdrohung; am anderen um die Suche nach dem Numinosen.

All das scheint auf eine ästhetisch-philosophische Kongruenz mit Ernst Jünger hinauszulaufen, die Sudek in einer werkästhetischen Praxis gleichsam umsetzte. Progressiv durch die Apparatur der Fotografie ausgestattet, regressiv in der Negation eines bürgerlich-positivistischen Wahrheitsanspruchs und der Suche nach Epiphanie. Sudek antizipierte so gesehen in seinen wichtigsten Werken die von Jünger eingeforderte „seelische Revolution“, und ähnlich wie in der literarischen Ikonographie des deutschen Schriftstellers blieben Sudeks Stadtfotografien von einer ästhetischen Harmonisierung geprägt. Gleichsam als Reprise der Schrecknisse des Ersten Weltkrieges sind mithin die surrealen, somnambulen, alptraumartigen Anwandlungen im Werk zu deuten, Torsi, liegende Statuen, zerborstene Gesichter: es fällt nicht schwer, darin symbolisiert die Brutalität der Schützengräben wiederzuerkennen. In diesem Sinne zeigt sich in Sudeks Schaffen die Reflexion einer biografischen und kollektiven Katastrophe, aber auch die Antwort auf eine epochale Krisenerfahrung im Modus einer ästhetischen Mythologie. Mit den nun veröffentlichten Ruinen-Bilder legen die fleißigen Archäologen des Sudek Projects nun klarer und eindeutiger den Urgrund von Sudeks Schaffen frei, der nichts anderes ist als dies: eine ins Mythische gewendete Ästhetik des Schreckens.