Wie kein anderer hat der tschechische Fotograf Jaroslav Kučera die randständigen Existenzen im Sozialismus und des Kapitalismus porträtiert und ihre Lebenswelt erkundet. Im Westen noch weitesgehend unbekannt, beerbte er mit seinem Schaffen die Emigranten Josef Koudelka und Antonín Kratochvíl. Andererseits zeigen sich aus heutiger Sicht auch Affinitäten zu Ed van der Elsken, Daido Moriyama und vor allem Anders Petersen. Ein Rückblick.
Jaroslav Kučera ist der bedeutendste Prager Chronist der letzten dreissig Jahre des 20. Jahrhunderts, aber zu den herausragenden tschechischen Foto-Journalisten zählt er nicht. Der Lauf der Geschichte hatte Josef Koudelka aus der Tschechoslowakei vertrieben und Antonín Kratochvíl emigrieren lassen, Jaroslav Kučera blieb diesseits des Eisernen Vorhangs als Zeitzeuge und als Bild-Journalist überwiegend an Prag gebunden.
Der große internationale Durchbruch gelang Kučera indes nicht, weniger radikal in der Bildsprache, fallen seine Fotografien auch ästhetisch von denen der Emigranten ab. Gleichwohl bildet kein fotografisches Werk die Wirklichkeit und die Notdurft in den letzten Jahrzehnten des tschechischen Sozialismus so beeindruckend und lebenszugewandt ab wie das von Kučera.
Jaroslav Kučeras Prag-Biografie
Auffallend ist bei Jaroslav Kučera die Hinwendung zu gesellschaftlichen Randgestalten, die ihn in eine eigentümliche Nähe zu Anders Petersen rückt. Hier wie da dominiert im Werk die Personnage des Prekären, aber bei Kučera eben nicht nur: Neben Huren, Bettlern, Invaliden und Sinti finden wir auf den Fotos auch Studenten, Affären oder einfache Prager Bürger. Der Unterschied zu Petersen, aber auch Koudelka und Kratochvíl: Als Fotograf arbeitete Kučera immer auch biografisch, sodass sich aus den vorhandenen Bildern und seinen Kommentaren unschwer sein Lebensweg nachzeichnen lässt, der stets mit dem Schicksal der Stadt Prag verwoben ist.
Der Prager Frühling als Beginn
Die Fotografien beginnen 1969 mit den Ausläufern des Prager Frühlings. Der Student Jaroslav Kučera beschloss in den Wirren des Aufstandes, sich der Fotografie zu widmen. Die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben und wohl auch das Bewusstsein des geschichtlichen Augenblicks trugen ihn gleichsam auf die letzte Etappe des tschechischen Sozialismus. Ausgangspunkt des Werkes ist mithin die Lebenswelt Prager Studenten. Man erfährt von Unisex-Duschen, Wohnheims-Prostitution und dem Leben eines tschechischen Don Juan. Porträts halbnackter Frauen changieren mit Fotografien von Treppenhäusern und dem freizügigen Treiben in den Wohnheimen und Saunen. Kommentiert sind die Bilder mit Straßennamen wie Ripská, Nuselska oder Kralodvorska ulice als Wegmarken einer Odyssee studentischer Promiskuität.
„And such is Prague“
Aber schon Mitte der 70er Jahre weitet sich der Blick, und das Werk erhält jene Tiefenschärfe, die es zu einem Kaleidoskop der prekären Lebenswelt im Spät- und schließlich Postsozialismus werden lässt. Tanzabende und Schönheits-Konkurrenzen im Lucerna wechseln sich ab mit Darstellungen von Obdachlosen und gestrandeten Existenzen in Besserungsanstalten, dazwischen Alltägliches vom Wenzelsplatz, dann wieder Sinti in Most und Žižkov, schließlich Stromer in Trinkhallen.
Natürlich: Vom Gerechtigkeits-Pathos sind die Aufnahmen ebenso weit entfernt wie vom sozialistischen Fortschritts-Optimismus, und bezeichnenderweise bemerkt Kučera oftmals selbst, dass etwa Bettelei oder privater Handel verboten waren, dokumentiert hat er sie trotzdem. Was der fotografische Grenzgänger Anders Petersen erst aus dem Abseits des kapitalistischen Hochglanz-Betriebes zog, ist im Prag Kučeras immer schon selbstverständlich im öffentlichen Bewusstsein verankert. Ob Jaroslav Kučera Gängeleien und Restriktionen ausgesetzt war, darüber schweigt sich der Fotograf aus.
Die Samtene Revolution erlebt Kučera aus unmittelbarer Nähe, und auch mit dem nun siegreichen Kapitalismus ändern sich die Sujets nicht. Im Gegenteil scheint es, dass der Kapitalismus, der alles ins Licht zerrt, was einen geldwerten Vorteil verspricht, Kučera noch einmal einen radikalisierenden Schub verleiht. Kučeras Interesse gilt nun dem käuflichen Sex. Mit aller Heiterkeit widmet er sich nun Porno-Castings, Straßen-Dirnen und den barbusigen Kellnerinnen in der böhmischen Provinz. Nach Jahren der Entbehrungen scheint sich in den Gesichtern der Frauen oftmals eine Art Hoffnung widerzuspiegeln, ob sich diese jedoch erfüllt hat, darf bezweifelt werden.
Fotografischer Moralismus
Will man das Werk von Kučera bestimmen, so drängt sich die Einordnung unter die Moralisten auf. Nicht herkömmlich verstanden als eine die Missstände anklagende Kunst, sondern dem lateinischen Wortsinne nach als Darstellung der mores, der Verhaltensweisen, Sitten, aber auch Vorurteile der Menschen. Ohne erhobenen Zeigefinger beschreibt Kučera durchweg Zustände oder andere gesellschaftliche Auffälligkeiten, verbreitet Befunde, liefert Spiegel. Immer erfüllt von einer ironischen Skepsis, fotografierte Kučera in beiden Systemen. Hier wie da waren und sind beide Ideologien von einem Glücksversprechen beseelt, das immer auch in einem hohen Maße Verzicht und Scheitern produzierte. Diese ohne Anklagen, aber mit viel Empathie eingefangen zu haben, zeichnet das Werk von Jaroslav Kučera aus.
Die Bücher „Setkání, okamžiky, samoty“ („Encounters, moments, solitudes“) und „Jak jsem potkal lidi“ („How I met people“) von Jaroslav Kučera sind im Jakura-Verlag erhältlich und können im Fotogeschäft Centrum FotoŠkoda unweit des Wenzelsplatzes erworben werden.