Berühmt wurde der Fotograf Josef Koudelka durch die Bilder vom Prager Frühling und die Aufnahmen von Roma in der Tschechoslowakei und Frankreich. Mit dem 1999 vorgelegten Band „Chaos“ folgte ein Bruch: Koudelka ließ das 35mm-Format hinter sich und öffnete sich der Panorama-Fotografie. Einher ging dieser Wechsel mit einer neuen Bildsyntax, die in ihrer Abstraktheit die Moderne soziologisch-philosophisch reflektiert.
Josef Koudelkas hohe fotojournalistische Darstellungskunst entstand im Spannungsverhältnis der totalitären Erfahrung sowie der darauf folgenden Flucht in die Heimatlosigkeit des Westens. Übersehen wird dabei oft, dass im Grunde schon vor der Emigration die Empathie mit dem Fremden und Anderen zum Movens seiner poetischen Bildsprache wurde: Um das Leben der wandernden und sesshaften Roma in der Tschechoslowakei nah und authentisch zu dokumentieren, wuchs Koudelka gleichsam in ihre Lebenswelt hinein, schlief, aß, litt und lachte bei ihnen. Als journalistisches Dokument gehört der Band Roma in seiner melancholisch-intimen Bildsprache zu den Höhepunkten der Fotokunst des 20. Jahrhunderts, selbst zum Heimatlosen wurde Koudelka schließlich nach dem Prager Frühling. Der Fotograf floh und arbeitete von nun an als einsamer Wanderer in aller Herrn Länder, bildpoetisch reflektiert hat der Tscheche diese Erfahrungen im Band Exiles.
Ein neuer Stil kündigte sich Ende der Neunziger Jahre mit dem Band Chaos an. Koudelka ließ das journalistische Kleinbild-Format hinter sich und wandte sich wie einst der Prager Bilderpoet Josef Sudek dem panaromatischen Mittelformat zu. Die praktisch durchgängig menschenleeren Aufnahmen entstanden in Deutschland, dem Libanon, Frankreich, Polen oder auch den USA und zeigen in einem gleichgültigen Nebeneinander Betonwüsten, bauliche Monstrositäten, Kriegsschauplätze, Konzentrationslager, aber auch Treibgut, Schrott oder Müll.
Der egalisierende Blick
Koudelkas Haus-Agentur Magnum spricht mit Blick auf Chaos von der Absurdität einer Welt, die von Kriegs-Zerstörungen, Umweltverschmutzung und Machtmissbrauch gezeichnet ist. Man kann noch weiter gehen und annehmen, dass gerade im Durcheinender von Orten, Motiven und Bild-Anordnungen eine ästhetische Programmatik zu finden ist. Es ist, so scheint es, ein alles egalisierender Blick, der für Koudelka in Chaos beherrschend wurde und der banale urbane Zerstörungen wie den Schrecken von Auschwitz gleich-gültig werden lässt.
Ordnung und Chaos
Belegt wird dies auch durch den eigentümlichen Hang Koudelkas, unterschiedlichste Panorama-Aufnahmen zu Diptychen oder Triptychen zusammenzufügen. Diptychen dienten in der Antike als Insignien von Macht und Herrschaft, in dreigliedriger Form finden sie sich im sakralen Räumen als Andachts- oder Altarbilder. Durch die Anverwandlung abendländischer Prunk-Medien verabschiedet Koudelka nicht nur die szenische Einheit von Zeit, Raum und Handlung; gleichzeitig lässt er einen Assoziationsraum entstehen, in dessen Bilderwelten unterschiedlichen religiösen und weltlichen Ordnungssystemen, ja zivilisatorischen Verheißungen selbst, die Rechnung aufgemacht wird.
Der Soziologe Zygmunt Bauman schrieb in Moderne und Ambivalenz: „Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich gestellt hat und die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus, als die am wenigsten mögliche unter den unmöglichen und die am wenigsten entbehrliche unter den unentbehrlichen.“ Und: „Ordnung ist, was nicht Chaos ist; Chaos ist, was nicht ordentlich ist: Ordnung und Chaos sind moderne Zwillinge.“ Bauman erkannte aber gleichzeitig wie vor ihm schon Adorno in den Ordnungssystemen der Moderne einen hybriden Machtanspruch, der fast schon zwangsläufig in kontrollierte Irrationalität und organisiertes Chaos umschlagen muss. Blickt man durch den Band, spricht alles dafür, dass Koudelkas Optik von ähnlichen Ahnungen einer verhängnisvollen Dialektik von Ordnung und Chaos getragen wurde.
Der vertikal fotografierte Todesstreifen von Auschwitz wird durch zwei Aufnahmen aus den USA zu einem Triptychon gestalteten Gesamtbild. Nimmt man die USA als Chiffre nicht nur für die Moderne, sondern auch für die Zivilisation schlechthin, gewinnt diese provozierende Gleichsetzung mit Baumans Überlegungen an Plausibilität: Der Holocaust war nicht das katastrophische Ergebnis eines deutschen Sonderweges, sondern in den ordnenden Strukturen der Moderne selbst angelegt; gleichsam als Kommentar können wir mit dem jüdisch-polnischen Soziologen sagen: „Es war die rationale Welt der modernen Zivilisation, die den Holocaust denkbar gemacht hat“.
Ein immer wiederkehrendes Motiv nicht nur im Auschwitz-Triptychon sind Straßen und Wege, die gleichsam ins Nirgendwo zu führen scheinen, aber auch im Niemandsland stehende Verkehrsschilder. Man mag in diesen Fotografien ein Reflex von Koudelkas Heimatlosigkeit erkennen, doch aus einer übergreifenden Perspektive versinnbildlichen diese Motive auch die Grundvoraussetzungen zivilisatorischer Ordnung und Struktur überhaupt.
Ein anderes Triptychon setzt sich beispielsweise aus einer zerschossenen und enthaupteten Marienstatue, einer womöglich durch eine Mörsergranate ramponierten Häuserwand sowie durch Kugelhagel durchlöcherte Verkehrsschilder zusammen. Die drei Fotografien stammen aus den Wirren des Jugoslawien-Krieges, könnten aber freilich auch aus jeder anderen christlich geprägten Kriegsregion des 20. Jahrhunderts stammen. In seiner kompositorischen Dichte gehört das Triptychon zu den verstörendsten Bildern im Band; gleichzeitig nehmen die Fotografien schon die zivilisationspessimistischen Ansichten Koudelkas zur Hybris nationalistischer und religiöser Ordnungssysteme vorweg, wie er sie Jahre später im Film Koudelka shooting Holy Land formulieren sollte.
Das nie endende Menetekel der Geschichte
Als Chaos veröffentlicht wurde, war Koudelka schon 61 Jahre alt. Tatsächlich trägt der Band in all seinem kompositorischen Eigensinn schon Züge eines Alterswerks, auch ging es dem tschechischen Fotografen unverkennbar darum, kurz vor dem Ende des 20. Jahrhunderts eine Art Bilanz zu ziehen. Dies gelang ihm, indem er von allen narrativ-journalistischen und biografischen Darstellungen absah und im Medium der Panorama-Bilder zu einer „Abstraktheit“ gelangte, die in ihrem rigorosen Pessimismus die Philosophie der späten Frankfurter Schule und Zygmunt Baumans mit der ihm eigenen kompositorischen Genialität verband. Anders als die Fotografien des Frühwerks sind die Bilder aus dem Chaos-Band damit nicht nur bloße zeitgeschichtliche Dokumente; als Darstellungen der beispiellosen Verheerungen, deren zivilisatorische Prämissen bis heute gleichsam stumm weiterlaufen, sind sie Zeugnisse und Menetekel zugleich.