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Seismograph des Übergangs

Es war ein kometenhafter Aufstieg. Frank Schirrmacher übernahm 1989 zunächst den Literaturteil der FAZ von Marcel Reich-Ranicki, dann wurde er, 1994, einer der jüngsten Herausgeber und Nachfolger von Joachim Fest. Nun legt Jakob Augstein im Band „Ungeheuerliche Neuigkeiten“ ausgewählte Interviews und Artikel aus den Jahren 1990 bis 2014 vor.

Frank Schirrmacher war Literaturwissenschaftler und kam von Thomas Mann, Stefan George, Franz Kafka und Georg Trakl. Der Verleger Wolf Jobst Siedler sprach in seinen Erinnerungen von der zweiten deutschen Genieepoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach der Weimarer Klassik mitsamt den Romantikern. Dass, ähnlich wie im späten 19. Jahrhundert, eine Erschöpfungsphase folgte, mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb sich Frank Schirrmacher der gesellschaftlichen Gegenwart und vor allem Zukunft öffnete. Bestimmend wurde neben Kulturellem nun auch anderes: Zunächst die alternde Gesellschaft, dann die digitale Revolution, schließlich die Globalisierung und der Finanzmarkt-Kapitalismus.

Frank Schirrmacher - "Ungeheuerliche Neuigkeiten" © Blessing-Verlag ISBN 978-3-89667-556-9
Frank Schirrmacher – „Ungeheuerliche Neuigkeiten“ © Blessing-Verlag
ISBN 978-3-89667-556-9

I. Literarisches

Augstein lässt mit dem Buchtitel den Sprachgestus von Reich-Ranicki intonieren: „Ungeheuerliche Neuigkeiten“. Tagesaktualität und Kleinteiliges waren Frank Schirrmachers Sache aber nicht. Von Interesse waren die großen Zusammenhänge, die unterirdischen Verbindungen, tektonische Verschiebungen, Sollbruchstellen. Und gerade deshalb sind es, im Literarischen, die großen Namen der ersten Jahrhunderthälfte: Benn, Kafka, George, Jünger & Brecht, denen Schirrmachers Aufmerksamkeit gilt. Die Essays gehören zu den besten des Bandes. In ihnen zeigt er, was Literatur in ihren größten, abgründigsten und tiefsten Momenten sein kann: Vergegenwärtigung, Ahnung und Prophezeiung.

Trotzdem würdigt Frank Schirrmacher auch die deutsche Nachkriegsliteratur, der Marcel Reich-Ranicki in der FAZ das bedeutendste Forum bot. Schirrmacher ist beeindruckt von der Koinzidenz von Literatur und Zeitgeist, für die die Nachkriegsliteraten der jungen Bundesrepublik einstanden. Nichts ist falscher, als die Gruppe 47 nur als opponierende Bewegung wider den restaurativen Zeitgeist zu deuten, sie war immer und vor allem identitätsstiftend. Dies beschreibt ihre einzigartige Leistung auch im europäischen Kontext, aber auch, im Angesicht der Zäsur von 1989, ihre Grenzen.

Man kommt nicht umhin, Schirrmachers Artikel heute als wahr und richtig zu deuten. Die Literatur verlor sich nach 1990 im Subjektiven oder scheiterte da, wo sie noch einmal politisierend & moralisierend aus dem Geist der Nachkriegsliteratur schrieb. Der Artikel „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“ wirkt wie eine Blaupause dessen, was kommen sollte, man rufe sich nur die Debatte um Grass‘ „Ein weites Feld“ in Erinnerung. Er schreibt: „Wo Literatur, wie in West- oder Ostdeutschland, ob sie will oder nicht, das Bewusstsein einer ganzen Gesellschaft aufbauen, stützen und ihre Identität verteidigen will, verliert sie ihre Vergangenheit. Längst taugt sie dazu nicht mehr.“

II. Gesellschaftspolitisches

Marcel Reich-Ranicki erinnert sich in seiner Biografie, wie er Joachim Fest ein Gedicht des inhaftierten Linksextremisten Peter Paul Zahl vorlegt. Der Chefherausgeber, schon damals Inbegriff einer Liberalität, die den Literaturkritiker nur staunen ließ, winkt durch. Man kann diese nach allen Seiten offene Freigeisterei auch bei Schirrmacher wiederentdecken. Nach dem Bankrott der Investment Bank Lehman Brothers schreibt er im September 2008 „Das Zeitalter des Unglücks“ und zitiert, ohne ihn namentlich kenntlich zu machen, Joachim Fest: „Sie vernichtet Vermögen, die ganzen Staatshaushalten entsprechen, aber nichts an ihnen hat die Größe wenigstens des großen Täters, da ist kein überragendes Talent, es ist, um ein Wendung aus anderem Zusammenhang zu zitieren, „nicht einmal eine im hergebrachte Sinne niedrige Leidenschaft, die groß wäre durch die Intensität, sondern ganz überwiegend kleine Schwächen, Egoismen, Verstiegenheiten““. Die Rede ist von der zweckrationalen Logik des etablierten Systems, und die Täter, die sich ihrer bedienen, rückt Schirrmacher in finsterste Genealogien. Die „Wendung aus anderem Zusammenhang“ stammt aus Fests „Das Gesicht des Dritten Reichs“, die neuen Bohrmann, Speer und Göring sitzen, das will uns Schirrmacher sagen, im Nadelstreif-Anzug in den Chef-Etagen des globalen Kapitalismus.

Natürlich war dieser Artikel mehr Affekt als durchdachte Argumentation, nur Polemik im Angesicht eines drohenden Kollapses. Das mag der Grund gewesen sein, weshalb Augstein in seiner Sammlung darauf verzichtet. Die ordnende Gedankenarbeit folgte bei Schirrmacher nach, im Artikel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat“ dient ihm der konservative englische Publizist Charles Moore als Mundstück für diese
Korrekturen. Das Staunen relativiert sich, wenn man sich den Boden vergegenwärtigt, von dem aus argumentiert wird. Planbarkeit, Berechenbarkeit, Bildung, Aufstieg und Familie, Schirrmacher spricht von der Zerstörung des „traditionellen Lebenszyklus in fast allen
seinen Details.“ Es bleibt, trotz skurriler gedanklicher Kapriolen, die bürgerliche Daseinsform, die ihm als Folie für die Kritik dient; bei aller Lust an der Provokation exerziert Schirrmacher in extremer Form nur das, was Hannah Arendt „Denken ohne Geländer“ nannte. Auch hierhin folgte Schirrmacher Fest.

III. Korrekturen

Schirrmachers eigentliche Leistung war die Transformation des Feuilletons. Von Marcel Reich-Ranicki und Joachim Fest übernommen, verstand er Publizistik und Journalismus ähnlich wie Literatur als Seismographie. Er öffnete sich der Zukunft, reflektierte, diskutierte, prognostizierte neue Entwicklungen. Affinitäten und Sympathien deuteten sich an, zu Albrecht Müllers „Nachdenkseiten“ ebenso wie zu den „Piraten“. Das verschaffte seiner Publizistik eine ungeheure Resonanz, macht sie aber auch angreifbar – und gerade deshalb für künftige Jahre zu einer lohnenswerte Lektüre. Der epochemachende Enschnitt von 2015 kündigt sich nun tatsächlich an, doch anders als erwartet. Auch die Gespräche über die städteplanerische Eingriffe im Angesicht eines drohenden Bevölkerungsschwundes nehmen sich jetzt, durch die Flüchtlingskrise, seltsam fremd aus. Sie widerlegen Schirrmacher und setzen Joachim Fest ins Recht, dem die Regellosigkeit und Unvorhersagbarkeit die einzigen geschichtlichen Konstanten waren. Doch das war der Preis, den Schirrmacher zu zahlen bereit war.

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