Eine Mammut-Aufgabe, an deren Ende ein voluminöses wie in jeder Hinsicht gewichtiges Werk steht. Mit dem zweibändigen Band „Atlas zum Städtebau“ legen die Architektur-Theoretiker Markus Tubbesing, Vittorio Magnago Lampugnani, Harald Stühlinger zwei wegweisende Bände vor, die auch außerhalb etablierter Fachkreise auf Interesse stoßen werden.
Den verloren gegangenen Ariadnefaden wollten die Macher dieses zweibändigen Atlas zum Städtebau wieder aufnehmen. Nachdem sich im 19. Jahrhundert eine Tradition städtebaulicher Handbücher und Publikationen von Ildefonso Cerda über Josef Stuben bis hin zu Ludwig Hildesheimer etablieren konnte, verlor sich dieser noch sehr dünne und kurze Traditionsstrang nach den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Frage, was eine moderne Stadt ist oder werden sollte, war im Angesicht intellektueller Beliebigkeiten keine dringliche mehr, und die Trennung von Stadtplanung und Stadtarchitektur sowie die immer amorpher und formloser in die Landschaften wuchernden Städte leisteten nicht minder einer allgemeinen Regellosigkeit Vorschub. Handbücher zum Städtebau waren spätestens in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wie aus der Zeit gefallen.
Einen neuen Anlauf stellte mit dem Ende des 20. Jahrhunderts der Versuch dar, den Städtebau durch Architektur und vor allem die Landschaftsarchitektur zu ersetzen. Zwar wiesen diese „grünen“ Vereinnahmungen durchaus sehenswerte Ergebnisse auf; doch schwächten sie gleichzeitig die Erfahrung des Urbanen in solchen Gebieten. Was fehlte, so Vittorio Magnago Lampugnani in seinem Vorwort, war der ganzheitliche Blick, die Sensibilität für die organische Entwicklung hochindividueller urbaner Gebilde wie auch das Wissen, diese produktiv weiterzuentwickeln.
In diesem Sinne wollen die beiden Bände zunächst „zusammenfassen, strukturieren und verfügbar machen“. Denn erst auf Grundlage einer breiten Informationsbasis, dem Wissen um die Synthese von Architekturen an Straßen, Plätzen, Höfen, aber auch Uferpromenaden in Raum und Zeit, ergibt sich das Gespür für das, was die Kunst des Städtebaus eigentlich ausmacht. Dogmatisch und bestimmerisch will der Atlas zum Städtebau aber nicht sein; in der Praxis soll es Stadtplanern und Architekten um die theoretische Aneignung und praktische Übertragung bewährter Muster gehen. Federführend ist denn für die Autoren nur die Phänomenologie: Deskriptiv, wertfrei und fern jedweder Normierungen geht es um das Bewährte und Altbewährte – und um eine breite historische und baugeschichtliche Durchdringung der Straßen und Plätze für ein Höchstmaß lexikalischer Tiefenschärfe. Stadtplaner, Architekten oder Bauherrn können so in jedem Kapitel in einen fruchtbaren Dialog mit den architektonischen Artefakten treten und auf Basis der herausgearbeiteten Erkenntnisse diese selbst kreativ bei ihren Entwürfen anwenden.
Für eine möglichst gute Vergleichbarkeit nähern sich die Verfasser in jedem Kapitel aus der Vogelperspektive und in den Maßstäben 1:10.000 und 1:2.000 der Stadtstruktur und dem Stadtraum, um über architektonische Schnitte und Grundrisse im 1:500-Maßstab ganz kleinteilig im Verhältnis 1:100 den Blick auf Bäume, Steinfassaden, Gehwege oder Straßenlaternen zu richten. Erst aus dem Zusammenspiel dieser Ebenen entstehe, so die Autoren, die Physis der Stadt. Am Ende eines jeden Kapitels stehen übergreifende Einordnungen, die aus der Dialektik allgemeiner und besonderer Entwicklungen gewonnen werden. Über den Staromestske Mesto lesen wir zum Beispiel, dass er „eines wichtigsten Beispiele eines unregelmäßigen europäischen Bauplatzes (ist). Seine Fassung mit Gebäuden aus dem Mittelalter, dem Barock und dem Stadtumbau des 19. Jahrhunderts spiegelt die reiche Geschichte der Stadt architektonisch wider. Öffentliche, kirchliche und private Bauherren haben einen Stadtraum geformt und geprägt, der im kollektiven Gedächtnis Prags eine signifikante Rolle spielt …“
Natürlich finden wir in den beiden Bänden nicht alles. Den Rynek in Krakau haben wir vermisst, ebenso den Wenzelsplatz in Prag. Auch auf Außereuropäisches wurde aus Zeitgründen verzichtet. Dafür ist der zeitliche Bogen umso weiter gespannt. Mit dem Grand-Place in Brüssel aus dem elften Jahrhundert bis hin zur erst 80 Jahre alten Amsterdamer Orteliusstraat deckt der Band über sieben Jahrhunderte ab, dokumentiert werden innerhalb dieser Spanne insgesamt 68 Stadträume.
Klassenbewusstsein und bauliche Distinktion
Der Modus durchgängig lexikalischer und wertneutraler Darstellungsweisen bringt notwendigerweise den Verzicht auf ideologische, sei’s modernistisch-progressive oder traditionalistisch-konservative Einordnungen der Baudenkmäler mit, wiewohl sie sich dem Betrachter durchaus aufdrängen. Im zweiten Band Straßen beschreiben die Autoren die Via Assarotti in Genua mit ihren bestimmenden bürgerlichen Renaissance-Architekturen. Wie die Verfasser nachweisen, ging es dem Stadtarchitekt Giovanni Battista Resasco darum, den Geist der 300 Jahre älteren Via Garibaldi wiederzubeleben. Was vor allem hieß: Mit neuen alten Mitteln eine Herrschaft der Ästhetik zu inszenieren. War es in der Via Garibaldi der gleichsam architektonisch geronnene Besitz- und Herrschaftsanspruch des Adels, handelt es sich bei der Via Assarotti um eine historistische Neuinterpretation für das reiche Besitzbürgertum mit nicht minder prunkvollen Wohnpalästen.
Der Náměstí Míru in Prag
Der Anschluss ans Überkommene, den lokalen Vorbildern wie den architektonischen Traditionen, belegen die Verfasser auch mit Blick auf den Prager Náměstí Míru (Friedensplatz). Als zentraler Platz des bis 1918 unabhängigen Stadtteils Vinohrady von Josef Mocker konzipiert, sehen die Verfasser den Prager Altstädter Ring als prägend für den Entwurf an, eine Ansicht freilich, die dem Besucher vor Ort durch die neugotische Ludmilla-Kirche sowie die Grünanlagen und Tram-Einbindung etwas aus dem Blick gerät. Bestimmend war hier wie auch in Genua der „doppelte Blick“, welcher den architektonischen Formenvorrat – lokal wie überregional – für Klassenbewusstsein und gebaute Distinktion vereinnahmt. Das besondere Interesse gilt dabei dem neubarocken Haus am Náměstí Míru 5. Im Maßstab 1:500 erhalten wir nicht nur Einblicke in die Grundrisse; gleichzeitig präsentieren sie das, was die Autoren als den „Prager Wohnungstyp“ bezeichnen und den heutigen Betrachter im Angesicht großstädtischer Raumknappheit durchaus staunend zurücklässt: Der straßenseitige Salon im ersten Geschoss ist repräsentationslustige 45 Quadratmeter groß, und nicht Wunder nimmt es, dass sich an der Bevölkerungsstruktur über das Jahrhundert wenig verändert hat; heute wie damals sind es Juristen, Ärzte oder höhere Beamte, die am Friedensplatz wohnhaft sind.
Im Band Straßen beleuchten die Verfasser den Hoofdweg in Amsterdam. Der Eintrag präsentiert zwei Häuserzeilen mit Backsteinfassaden von je 290 Meter Länge, die durch ihren Verzicht auf vertikale Gliederungen gleichsam im Unendlichen zu verlaufen scheinen. Zwar weisen die Verfasser nach, dass sich die Architekten noch ein Stück weit am Vorbild Amsterdamer Grachten orientierten, doch bleibt nicht nur der Eindruck eines verloren gegangenen Proportionsbewusstseins, sondern auch die Ahnung, gleichsam im Zeitalter anonymer Vermassung angekommen zu sein. Dass Geschichte immer auch Verlustgeschichte ist, wird in keinem Eintrag zur jüngeren Baugeschichte so deutlich im Kapitel über den Hoofdweg.
Die Erfahrbarkeit der Stadt
Die Welt jenseits planender, berechnender und vermessender Architekten, Bauherrn und Stadtplaner ist der unmittelbare Erfahrungsraum der Anwohner, Flaneure und auch Touristen. Zwar lädt das Buch nach Anlage und Stilistik wahrlich nicht zum Lesen „am Stück“ ein, – dafür sind die lexikalische Schreibweise sowie die auf akademische Exaktheit ausgerichtete Darstellung zu sperrig -, zum Schmökern gereichen die beiden Bände sehr wohl. Nicht zuletzt für Städtereisende liefern die Bände ein riesiges Füllhorn an Topografien, die dazu ermuntern, bisher unbekannte Städte mit ihren Plätzen analytisch zu durchdringen – und schließlich selbst vor Ort zu erfahren. Über den Münchner Gärtner-Platz lesen wir zum Beispiel, dass er „als Kombination aus Verkehrs-, Schmuck- und Erholungsplatz weiterhin das Herz des Quartiers bildet.“ Jenseits dieser mit professoraler Kühle vorgetragenen Feststellung weiß aber schon jeder, ob Reisender oder Anwohner, welcher tatsächlicher Erlebnisschatz dieser Lexikonsatz birgt. Wer an lauschigen Sommer-Abenden auf dem einst in barocker Geschlossenheit konzipierten Platz weilt, kann sich sicher sein, an einem der schönsten Plätze München zu sein.